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Fawzi Boubia
Rabat/Caen
Die arabische Protestbewegung als Diversitätenkampf.
Freitag, 15. Juli 2011, 14:00
Am Beispiel Marokkos, das sich zum Teil auch auf andere arabische Länder übertragen lässt, wird die Thematik entfaltet. Die marokkanische Protestbewegung hat eine eigene lange Vorgeschichte, ist aber auch Teil des sogenannten arabischen Frühlings. In ihr wird wohl zum ersten Mal die unglaubliche Diversität mit einschlägigen Forderungen sichtbar, die das Land charakterisiert.
Sie bezieht sich auf verschiedene Bereiche:
- Die Religion: Dabei werfen modernistische Kreise die Fragen der Glaubensfreiheit und der Laizität auf.
- Die Sprache: Hier handelt es sich um die Forderung nach offizieller Anerkennung von Sprachen, die bisher von den Verfassungen des Landes okkultiert wurden, z.B. das Berberische.
- Die Regionen: Die bisher vernachlässigten oder nach mehr Autonomie bzw. Unabhängigkeit strebenden Randgebiete entweder im Norden oder im Süden des Landes melden ihre Ansprüche an.
- Die Gesellschaft: Ganz ausgeschlossen fühlt sich zum Beispiel die Jugend. Betrogen wurden ihre Hoffnungen auf eine seriöse Ausbildung und einen angemessenen Arbeitsplatz. Große Engpässe auf den Gebieten des Bildungssystems, der gesundheitlichen Versorgung und dem sozialen Wohnungsbau sind ebenfalls zu verzeichnen.
Die Ideologie: Da der Anteil der säkularisierten sozialen Gruppen immer grösser wird, werden diese immer selbstbewusster und melden in den Medien ihre Forderungen nach Umwertung der traditionellen Werte unverhohlen an. Wie differenziert und vielschichtig die marokkanische Gesellschaft tatsächlich geworden ist, zeigt zuletzt der Erfolg der sozialen Netzwerke mit ihren unzähligen Foren. Dort können sich die Stimmen der Gesellschaftsgruppen Gehör verschaffen, denen das pseudoliberale System des aufgeklärten Absolutismus bisher einen Maulkorb anlegte. Die islamisch regierten Länder, auch diejenigen, die wie Marokko eine jahrhundertealte Tradition weitgehender Toleranz vorweisen können, aber auch die nach der Entkolonialisierung entstandenen autoritären Regime in der arabischen Welt haben sich als unfähig erwiesen, die Komplexität der sozialen, linguistischen, ideologischen, axiologischen und regionalen Diversität sinnvoll zu erkennen und anzuerkennen, geschweige denn den richtigen Umgang mit ihr zu finden. Im Zuge der rasanten Modernisierungsprozesse ist eine große Diskrepanz zwischen den althergebrachten Herrschaftssystemen und den modernen Formen des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins und der Wertvorstellungen der verschiedenen Akteure der Zivilgesellschaft entstanden, die in einem forcierten Demokratisierungsprozess die Möglichkeit erblicken, die Gemeinsamkeiten zu gestalten. Sie wollen die Politik im Rahmen einer parlamentarischen Monarchie mitbestimmen. Konservative Kritiker befürchten wiederum eine Balkanisierung bzw. Libanonisierung des Landes, sollte der König seine Prärogativen verlieren. Diesen hat der Monarch vor kurzem mit einer aufokroyierten Verfassung Recht gegeben. Ob ihnen auch der Gang der Weltgeschichte Recht gibt, bleibt dahingestellt.