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Chetana Nagavajara
Bangkok
Verslehre als Lebenshaltung: Im Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Ethik.
Freitag, 15. Juli 2011, 16:00
In einer vorwiegend durch Mündlichkeit und Reimdichtung geprägten Sprachkultur aufgewachsen, in der das normsetzende Wörterbuch des hochangesehenen „ Royal Institute“ nicht einmal das Wort für „Prosa“ im gängig-zeitgenössischen Sinn zulässt, – dort heisst „Prosa“ nämlich ,,ein durch Klang und Sinn schön stylisierter Diskurs” – bleibt der Referent, trotz seiner europäischen Lehrjahre, der heimatlichen Tradition verhaftet. Er ist somit einem Alphabetisierungssystem verpflichtet, in welchem die Elementarbücher sich auf gereimte Regeln und Ausdrucksweisen stützten, (was sicher in manchen westlichen Ländern auch nicht ganz fremd war.) Selbst ehrwürdiges Wissen, zum Beispiel die Steininschriften am Pho-Tempel in Bangkok, der "Universität aus Stein" aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, wurde durchaus in poetischer Form tradiert. Der Genuss am Reim, der auch die Volkspoesie charakterisiert, durchdringt sogar die in der indogermanisch verwurzelten, aus der altindischen Literatur übernommenen Versmaße, was die thailändische Gelehrtenpoesie von der Adaption der antiken Versmasse durch die deutschen Dichter unterscheidet.
Aber handelt es sich hier nur um rein ästhetische Erwägungen? Die Begegnung mit westlichen Denkweisen, die solche Redewendungen erzeugen, wie "rhyme and reason" oder "sans rime ni raison", fordert den Referenten zu weiterer Reflexion auf. Ein Spannungsfeld eröffnet sich zwischen Reimbildung und Reimlosigkeit, das sich bald in eine Antithese zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen auflöst. Reimlosigkeit mag manchen als ein ästhetischer Defekt oder ein Mangel an Verfeinerung erscheinen – obwohl die Verfechter des Blankverses und der freien Rhythmen anders denken –, nimmt aber bald eine ethische Färbung an und mündet schließlich in „Ungereimtheiten“.
Zahlreiche Parallelen im thailändischen und im westlichen Denken und Handeln lassen sich mittels Verspraxis beobachten, denen wiederum kulturelle sowie ideologische Implikationen entspringen. Reimbildung könnte auf Volksnähe deuten, während Reimlosigkeit – entweder in gelehrten oder modernistischen Manifestationen – eher Volksferne implizieren könnte. Ohnehin ist für einen Thailänder der einfachste Verknüpfungspunkt das Lied – egal ob es um Volks− oder Kunstlied, Schlager oder sogar Hip Hop geht. Der Reim herrscht dort vor, der Reim fördert die gegenseitige Erhellung von Wort und Musik, der Reim verbindet Gemeinschaften mitunter auf globaler Ebene. Die Aufgabe, die uns allen bevorsteht, wäre, jenes Potential aufzubauen, welches die Ästhetik als Stützpfeiler für die Ethik verankert.
Das alles klingt aber sehr bekannt. Wir tagen ja nicht weit von einer anderen Neckar-Stadt entfernt, dem Geburtsort des Verfassers der "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen".