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Ingo Sarlet
Porto Alegre
Rassenkonflikte und/oder Rassendialog: Ungleichheiten und positive Diskriminierung in Brasilien.
Freitag, 15. Juli 2011, 11:30
„Wir haben das Recht, gleich zu sein, wenn der Unterschied uns erniedrigt; wir haben das Recht, anders zu sein, wenn die Gleichheit uns unserer Charakteristiken beraubt“.1
In Brasilien sind die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede bekanntlich gross. Grosse Unterschiede gibt es aber auch zwischen den Sitten und Kulturen der verschiedenen Regionen des Landes. Das beginnt bereits mit der Verteilung der Bevölkerung: Laut Informationen des Nationalen Instituts für Geographie und Statistik [IBGE] hatte Brasilien am 1. August 2010 190.755.799 Einwohner. Diese Bevölkerung ist jedoch in den verschiedenen Regionen ungleich verteilt: 15,8 Millionen im Norden, 53,08 Millionen im Nordosten, 14,05 Millionen im Mittleren Westen, 80,3 Millionen im Südosten und 27,3 Millionen im Süden. Trotz der bereits erzielten Fortschritte, befinden sich noch 8,5% der Bevölkerung in einer Situation äusserster Armut: 4,8 Millionen Menschen haben ein nominelles Haushaltseinkommen von R$ 0.00 pro Monat, während 11,43 Millionen über ein monatliches Einkommen verfügen, das zwischen R$ 1.00 und R$ 70.00 liegt, was weniger als US$ 1.25 pro Tag entspricht. Solche Ungleichheitsindikatoren werden noch aufffallender, wenn man berücksichtigt, dass sie in einigen Regionen (das gilt dür den Norden und Nordosten, wo die Indikatoren äusserster Armut bedeutend höher sind im Vergleich zu den anderen Regionen, besonders dem Südosten und Süden) und in einigen Bevölkerungsgruppen noch ausgprägter sind, denn unter den Armen ist die dunkelhäutige Bevölkerung (bestehend aus Schwarzen und Gemischten bzw. Dunklen [?]) die am stärksten „vertretene“ mit 70,9%.
Die brasilianische Bundesverfassung vom 5. Oktober 1988 zeigt, zumindest in ihrem Wortlaut, Sensibilität gegenüber dieser Situation, die ja zu der Zeit, als sie erlassen wurde, noch ausgeprägter war. Laut Artikel 3 der genannteen Bundesverfassung sind folgende die Grundzielsetzungen der brasilianischen Bundesrepublik: 1. eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft aufzubauen; 2. die nationale Entwicklung sicherzustellen; 3. Armut und Marginalisierung zu beseitigen sowie die sozialen und regionalen Ungleichheiten zu verringern; 4. das Wohl aller zu fördern, ohne Vorurteile in bezug auf Ursprung, Rasse, Geschlecht, Hautfarbe, Alter und andere Formen der Diskriminierung. Ausserdem ist eine allgemeine Klausel, die unter dem Titel der Grundsätzlichen Rechten und Garantien steht, jegliche Diskriminierung verbietet und die Gleichheit aller vor dem Gesetz erklärt (Artikel 5, caput), von einer Reihe anderer Bestimmungen begleitet, welche alle die Verpflichtung auf die Überwindung der Ungleichheiten und die Bekämpfung der Diskriminierung beinhalten. Darunter sind diejeigen Bestimmungen hervorzuheben, die sich auf die Rechte, den Schutz und die religiöse und kulturelle Förderung der afrobrasilianischen und indigenen Bevölkerungsgruppen beziehen (Artikel 210 Abs. 2, 215 Abs. 1, 216 Abs. 5, 231 und 232).
Bekanntlich ist Brasilien nach Nigerien die grösste schwarze Nation der Welt beziehen. Laut der Jährlichen Haushaltsbefragung [PNAD] von 2009 haben sich 51% der Bevölkerung als dunkelhäutig deklariert. Diese ist eine Bevölkerungsgruppe, die sowohl aus Schwarzen (7%) als auch aus Gemischten bzw. Dunklen (44%) besteht. Da der Prozentsatz von gelben und indigenen Menschen 1% beträgt, entspricht der Anteil von Weissen 48% der Gesamtbevölkerung. Es fällt jedoch auf, dass, wenn man für Afrobrasilianer alle Menschen hält, die zu mehr als 10% afrikanischer Abstammung sind, dann beträgt ihr Anteil 87% der Gesamtbevölkerung, dies nach Angaben einer 2004 veröffentlichten Studie, die auf der Volkszählung von 200 basierteund auch zeige, dass damals 48% der Afrobrasilianer sich als weiss bezeichneten2.
Solche Daten zeigen bereits, dass in Brasilien die Frage der affirmative action policies eine im Vergleich zu anderen Ländern differenzierte Perspektive aufweist, sei es unter anderem weil die Schwarzen die Mehrheit der Bevölkerung, und nicht eine Minderheit, darstellen, sei es aufgrund der Tatsache dass es selbst innerhalb dieser Mehrheit bedeutsame Unterschiede festzustellen sind, da die Ausgrenzung der Gemischten bzw. Dunklen in dem Masse geringer ist, als sie sich den Weissen annähern. Auf der anderen Seite, anders also anderswo gibt es in Brasilien einen starken religiösen und kulturellen Synkretismus, eine gegenseitige Assimilierung von Riten, Traditionen und kulturellen Erscheinungen im allgemeinen. Dies führte unter dieser Perspektive sogar zur Rede vom Bestehen einer Art Rassendemokratie, einem Mythos, der jedoch zur Zeit angesichts des intensiven (wenn auch abnehmenden) Niveaus indirekter Diskriminierung dekonstruiert wird. So muss die Politik und besonders das Recht, worum es uns hier in erster Linie geht, diese Faktoren berücksichtigen, vor allem wenn es um die Schaffung und Gestaltung von affirmative action policies oder um Massnahmen zur Bekämpfung direkter Diskriminierung geht.
Solche policies, die im Text der Verfassung stark verankert sind, haben, zumindest in der auch hier vorausgesetzen Bedeutung, eine doppelte Zweckbestimmung und Rechtfertigung, denn einerseits zielen sie auf eine gerechte Umverteilung der sozialen Güter (und sind insofern auf den Zweck des Ausgleichs faktisch bestehender Ungleichheiten und der Bekämpfung der sog. indirekten Dskriminierung bezogen) und sind andererseits in der Sphäre der Anerkennung wirksam. Die Sphäre der Anerkennung wird hier im Sinne der sozialen Integration sowie der Achtung der persönlichen Identität und des Unterschieds im Bereich der Beziehungen zwischen Subjekten verstanden, und dies ist ein Problem, das mit dem der direkten Diskriminierung eng verknüpft ist3.
Im brasilianischen Kontext sind verschiedene affirmative action policies im Laufe der letzten Jahre geschaffen worden, um die zwei genannten allgemeinen Zielsetzungen (Umverteilung and Anerkennung) zu erreichen. Im Falle der Eingrenzung der schwarzen Bevölkerung sind folgende gesetzgebende, administrative und rechtsprechende Massnahmen und Bereiche hervorzuheben: Massnahmen zum Schutz der historisch-kulturellen und religiösen Traditionen der Schwarzen und Nachkommen der Sklaven, zur Eingliedrung der Afrobrasilianer (Schwarzen und Gemischten bzw. Dunklen) in das Hochschulwesen, zu ihrer Integration in den Arbeitsmarkt, unter Betonung des öffentlichen Sektors und unter Einschluss allgemeiner policies (wie etwa das Programm „Universität für alle“ [ProUni]) und sektoraler policies, in diesem Falle der Reservierung von Studienplätzen in öffentlichen Universitäten, die in mehreren Orten bereits umgesetzt sind4 und zur Zeit unter der Lupe der Judikatur stehen5. Das umstrittenste und umfassendste (weil es eine Reihe anderer Fragen neben dem Zugang zum Hochschulwesen und zum Arbeitsmarkt einschliesst) unter diesen Instrumenten ist das jüngst verabschiedete „Statut der Rassengleichheit“. Es wurde durch das Bundesgesetz Nr. 12288 vom 20.07.2010 geschaffen, mit dem Zweck, laut der in Artikel 1 enthaltenen Bestimmung, der schwarzen Bevölkerung die Umsetzung der Chancengleichheit, den Schutz der individuellen, kollektiven und diffusen ethnischen Rechte und die Bekämpfung der Diskriminierung und anderer Formen der Intoleranz zu garantieren.
Aus dem sikizzierten Bild ergibt sich, dass das Recht, besonders die für seine Setzung und Anwendung zuständigen Behörden, im Rahmen seiner regulierenden und induzierenden [?] Aufgabe, eine hochrelevante Rolle spielen kann. Andererseits jedoch muss das Recht sowie die für seine Umsetzung zuständigen Insitutionen und Beamten [?] eine tiefe Sensibilität haben – nicht nur in bezug auf die den affirmative action policies zugrundeliegenden und die von ihnen erzeugten Spannungen (da ja solche Massnahmen sich immer auf die Interessen und sogar Rechte anderer Bevölkerungsgruppen auswirken), sondern auch in bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen de Rechts. Wie kann man Eingrenzung und Integration fördern, ohne eine zunehmende Intoleranz und Teilung dort zu veranlassen, wo sie anscheinend keine Rolle spielten? Welche Dialoge kann unser Recht verhindern oder sogar fördern? Wie kann man verhindern, dass die Rede von der Bekämpfung von Ungleichheiten und Diskriminierung zu einem Fundamentalismus des politisch Korrekten führt? Wie soll man auf Gleichheit zielende policies in einem derart pluralen und von Vielfalt charakterisierten Umfeld gestalten und durchführen? Selbst die Gegenüberstellung von allgemeinen Gleichheitspolicies und sektoralen affirmative actions, unter dem Argument, dass erstere icht nur die Eingrenung der Benachteiligten sicherstellen, sondern auch die negativen Nebenfolgen der sectoral policies (wie etwa der Schaffung von Rassenquoten) verhindern, ist in Brasilien von besonderer Relevanz und wurde dort zu einem Diskussionsthema im Rahmen der Politik, der Hochschulen, des Rechts und der Zivilgesellschaft.
1 Santos, Boaventura de Sousa. A gramática do tempo. Para uma nova concepção política. In Coleção Para um novo senso comum, Bd. 4. São Paulo, Cortez, 2006, S. 462.
2 Vgl. Sérgio D. J. Pena und Maria Cátira Bortolini, Pode a genética definir quem deve se beneficiar das cotas universitárias e demais ações afirmativas? Revista de Estudos Avançados, Jg. 18, Nr. 50, São Paulo, Januar/April 2004, S. 31ff.
3 Zur hier implizierten Perspektive vgl. Sandra Fredman, Facing the Future: Substantive Equality Under the Spotlight, in: Ockert Dupper and Christph Garbers (Hrsg.), Equality in the Workplace, Cape Town, JUTA, 2009, S. 15-40, bes. 15ff.
4 Unter den bereits umgesetzten Massnahmen seien folgende erwähnt: a) einige Universitäten (etwa die Bundesuniversität von Paraná und die Landesuniversität von Rio de Janeiro) reservieren einen Prozentsatz der Studienplätze für selbstdeklarierte Afrobrasilianer; b) das Rio Branco Institut des brasilianischen Auswärtigen Amtes, das für die Ausbildung der angehenden Diplomaten zuständig ist, reserviert eine bestimmte Anzahl Stipendien für Afrobrasilianer; c) einige Kommunen (das ist etwa der Fall des Munizips von Porto Alegre, das 12% der Arbeitsplätze im kommunalen öffentlichen Dienst Afrobrasilianern bereitstellt) reservieren eine bestimmte Anzahl der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst für Schwarze und Gemischte bzw. Dunkle; d) auf der Ebene der höheren Bundesverwaltung sind 20% der Beratungs- und Leitungspositionen für Afrobrasilianer bestimmt.
5 Wegen eingelegter Berufungen gegen Entscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit, wird die Politik der Uni-Quoten vom Obersten Gerichtshof (ADPF Nr. 186 und RE Nr. 597285, Berichterstatter Richter Ricardo Lewandowski) zur Zeit diskutiert. Um Orientierung für seine zukünftige Entscheidung zu bekommen, hat dieses Gericht öffentliche Anhörungen (vom 3. zum 5. März) mit der Teilnahme von 38 Experten veranstaltet, welche als Vertreter von Regierungsstellen, einschliesslich der Exekutive und der Legislative, den Universitäten und der organisierten Zivilgesellschaft fungierten. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ist aber noch nicht verkündet worden. Zu den Daten über die öffentliche Anhörung und im Rahmen der anhängenden Verfahren gestellte Anträgen siehe www.stf.jus.br.